„Entweder man ist emanzipiert oder man ist es nicht“!

Dies denkwürdige Zitat von Irmgard Keun stammt aus „Irmgard Keun im Gespräch“. (mit Christa Maerker). Eine Produktion des SWR2 Anfang 2011 als Hörbuch erschienen und mutmaßlich ganz zu Anfang der 1980er Jahre aufgezeichnet.

Heute gibt es hier einen besonders persönlichen Blogbeitrag, denn Irmgard Keun ist eine späte, dafür umso intensivere Literaturliebe von mir geworden. Bis auf ihren Namen war sie für mich bis 2020 tatsächlich kein Begriff. Dies wird viele nicht verwundern, denn Irmgard Keun tauchte in den vorigen Jahrzehnten nicht im Kanon von Deutschunterricht oder Germanistik-Studium auf. Einige hatten das Glück, dass bei der ersten Wiederentdeckung der Schriftstellerin (Ende der 1970er Jahre) arrivierte Lehrer:innen aufmerksam wurden und die Romane von ihr doch in der Oberstufen-Lektüre den ein oder anderen Platz fanden.

„Wer ist Irmgard Keun?“ werden sich vielleicht manche Lesende hier fragen. Irmgard Keun, 1905 in Charlottenburg bei Berlin geboren, in Köln ab 1913 aufgewachsen und dort auch im Mai 1982 verstorben. Als Kind erlebte sie also bereits den 1. Weltkrieg. Sie besuchte das evangelische Mädchenlyzeum Teschner und anschließend verschlug es sie in den Harz, wo sie eine Handelsschule besuchte (Stenografie und Schreibmaschine erlernte sie später durch Privatunterricht und Besuch der Berlitz School). Ihr Berufswunsch war zunächst Schauspielerin. Diejenigen, die ihre Werke kennen, fragen sich vielleicht, ob sie denn auch ein „Glanz“ werden wollte, wie ihre Figur Doris aus „Das kunstseidene Mädchen“. Vermutlich war Irmgard Keun realistisch genug zu erkennen, dass nicht die Bühne ihr Wirkungsplatz ist, sondern der Schreibtisch mit Schreibmaschine, Papier und Geschichten, die ihrer phänomenalen Beobachtungsgabe entspringen.

Bereits ihr erster Roman „Gilgi, eine von uns“ machte sie 1931 schlagartig berühmt – sozusagen „über Nacht“. Der Roman war auch finanziell ein Erfolg. Irmgard Keun hatte auch unter bekannten Dichtern und Theaterleuten Förderer. Umso mehr mag es verwundern, dass sie später, nach dem 2. Weltkrieg, so in Vergessenheit geriet, obwohl auch ihr zweiter Roman „Das kunstseidene Mädchen“  (1932) ein Bestseller geworden ist.

Noch mehr verwundert dies im 21. Jahrhundert, da Irmgard Keun, neben ihren Romanen auch einige ganz außergewöhnliche biografische Details (wahr, unwahr, genau weiß man es nicht) aufweist. Wirklich belegt ist, dass sie 1935 eine Schadensersatzklage wegen Verdienstausfall durch die Beschlagnahme ihrer Bücher gegen die Nazis einreichte. 1936 ging sie ins Exil, zunächst nach Ostende, später in die Niederlande. Durch eine Falschmeldung in einer Zeitung wurde sie für tot gehalten und mit falschen Papieren gelangte sie zurück nach Deutschland, wo sie den Krieg in der Illegalität überlebte. 

Von der Wiederentdeckung im letzten Viertel des 20. Jahrhundert bis zur 3. Blüte in der Gegenwart, ist Irmgard Keun inzwischen doch im Bewusstsein vieler Universitäten, Verlage, Buchhandlungen und Leser:innen angekommen. Es gibt inzwischen zahlreiche Neuveröffentlichungen ihrer Werke und auch von Literatur über sie. Vertieft man sich dort hinein, ist eins gewiss: der Sogeffekt. Das Leben der Autorin, die Geschichten über sie und die Geschichten von ihr – alles scheint verwoben und die Frage „Wo endet die Realität und wo beginnt die Fiktion“ wird sicher die Forschung noch einige Zeit beschäftigen. 

2017 ist bei Wallstein „Das Werk: Gesamtausgabe“ erschienen, 2021 (Verlag Berlin-Brandenburg) ein sehr schöner Bildband „Das kunstseidene Berlin. Irmgard Keuns literarische Schauplätze“ von Michael Bienert und jüngst im Quintus Verlag (herausgegeben von Michael Bienert) „Man lebt von einem Tag zum andern: Briefe 1935-1948.

Wer durch Irmgard Keun auf das Berlin der 30er Jahre und die Bedeutung von Mode und Textil in der Metropole (und in ihren Romanen) aufmerksam wird, dem ist auch noch folgende Publikation vielleicht eine Bereicherung: „Mode Metropole Berlin 1836-1939. Entstehung und Zerstörung der jüdischen Konfektionshäuser“ von Uwe Westphal, Henschel Verlag, 2019 erschienen.

90 Jahre nach Irmgard Keuns Erfolg mit „Gilgi“ ist die „neue Frau“ Geschichte, ihr Werk aber in der Gegenwart angekommen. War ihr Schreiben vielleicht der Zeit 100 Jahre voraus und die zweite Wiederentdeckung bringt ihr jetzt posthum endlich den ihr zustehenden und verdienten Ruhm? Ich hoffe es. Ganz zum Schluss sei noch auf eine Publikation hingewiesen, in der auch Irmgard Keun mehrfach erwähnt wird und die aufzeigt, welche systemischen Gründe existieren, dass die Autorin sowie generell Autorinnen überhaupt in Vergessenheit gerieten oder leider noch geraten: „Frauenliteratur. Abgewertet, vergessen, wiederentdeckt“ von Nicole Seifert, im September 2021 bei Kiepenheuer & Witsch erschienen.

Herbst ist Lesezeit ebenso wie der monatelange Winter im Anschluss: Mit vielen Büchern wird er euch dennoch rückblickend im Frühling als zu kurz erscheinen! Schreibt uns gerne eure Meinung zum Blogbeitrag, gerne auch worüber ihr hier mal etwas lesen würdet und habt eine schöne Woche!